Wie du durch Wertearbeit innere Klarheit gewinnst – jenseits von Erwartungen
- Monia von Burg
- 3. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

Stell dir vor, für einen Moment gäbe es keine To-do-Liste.
Keine Termine, keine Rollen, keine Erwartungen. Nur dich.
Was würdest du dann tun?
Was würde dir gut tun? Was würde dich wirklich interessieren?
Und vor allem:
Würdest du wissen, wer du bist – wenn niemand etwas von dir will?
Diese Frage stellt sich nicht immer laut. Manchmal wächst sie leise, irgendwo zwischen Alltagspflichten, innerem Mitdenken und äusserer Präsenz. Und doch trägt sie Gewicht.
In diesem Artikel werden psychologische Konzepte wie Selbstwahrnehmung, Werteorientierung und Identitätsentwicklung aufgegriffen – mit dem Ziel, ein differenziertes Verständnis innerer Klarheit im Kontext sozialer Rollen zu ermöglichen.
Wenn das Selbstbild unscharf wird: Warum Rollen unser Ich überlagern
Das psychologische Selbstkonzept beschreibt die Gesamtheit der Überzeugungen, die eine Person über sich selbst entwickelt – etwa im Hinblick auf Fähigkeiten, Zugehörigkeit, Werte oder Ziele.
Im Alltag wird dieses Selbstbild oft durch soziale Rollen überlagert. Wenn sich Identität über längere Zeit stark an äusseren Erwartungen orientiert, kann das Erleben von Selbstkongruenz – also Übereinstimmung zwischen innerem Empfinden und gelebtem Verhalten – abnehmen.
Studien zeigen: Wenn wir uns an unseren Werten statt an Erwartungen orientieren – wie es die Acceptance and Commitment Therapy (ACT) beschreibt – stärkt das unsere psychische Flexibilität und unser inneres Wohlbefinden (vgl. Hayes, Strosahl & Wilson, 2006).
Werte dienen dabei nicht als Ziel im klassischen Sinn, sondern als Richtung – sie geben Orientierung, ohne zu bewerten oder zu kontrollieren.
Anpassung mit Nebenwirkung: Wie wir uns im Aussen verlieren
Soziale Anpassung ist ein tief verankertes menschliches Bedürfnis – insbesondere dann, wenn Zugehörigkeit, Beziehungssicherheit oder Harmonie im Vordergrund stehen. Viele Frauen werden schon früh darin bestärkt, mitzudenken, Rücksicht zu nehmen und für andere da zu sein.
Diese Fähigkeiten sind wertvoll. Sie fördern Verbindung, Fürsorge und soziale Stabilität.
Schwierig wird es dann, wenn das eigene Verhalten über längere Zeit hauptsächlich auf das Aussen ausgerichtet ist – auf Erwartungen, Bedürfnisse und Dynamiken anderer.
In solchen Mustern wird der Zugang zum eigenen Inneren oft leiser. Es fällt schwerer zu spüren oder zu benennen, was man selbst eigentlich will, braucht oder fühlt.
Die Bindungsforschung zeigt, warum: John Bowlby (1988) beschrieb Zugehörigkeit als zentrales menschliches Bedürfnis – gerade dann, wenn emotionale Sicherheit früh mit Anpassung oder Leistung verknüpft wurde.
In solchen Fällen wird der Wunsch, nicht zu enttäuschen oder dazuzugehören, schnell zum inneren Kompass – oft stärker als die eigenen Bedürfnisse.
Das zeigt sich heute zum Beispiel so:
Entscheidungen fühlen sich vage oder schwer an
Konflikte werden vermieden – obwohl innerlich etwas nicht stimmig ist
Es entsteht der Druck, zu funktionieren – aber selten aus echtem Eigenantrieb heraus
Diese Verhaltensweisen sind keine Schwächen. Sie sind oft gelernt – aus Lebenserfahrung, früher Prägung oder Bindungsgeschichte.
Doch auf Dauer können sie zur Belastung werden: Sie überlagern die Verbindung zu deinen echten Bedürfnissen – und machen es schwer, Entscheidungen aus deiner inneren Haltung heraus zu treffen.
Innere Orientierung beginnt mit der richtigen Frage
In Phasen innerer Unsicherheit ist der erste Schritt oft kein Tun, sondern ein Innehalten.
Nicht die Frage „Was sollte ich jetzt tun?“ steht im Vordergrund – sondern:
„Was entspricht mir – jenseits dessen, was gerade von mir erwartet wird?“
Solche Fragen sind nicht immer leicht zugänglich. Sie setzen eine gewisse Distanz zum Aussen voraus – und erfordern den Mut, die eigenen Werte und Bedürfnisse wieder wahrzunehmen.
Eine klare Antwort braucht es nicht sofort. Oft ist es das stille Zulassen der Frage selbst, das Bewegung bringt.
Mit jedem bewussten Moment, in dem innere Orientierung wichtiger wird als Anpassung, entsteht mehr Klarheit. Und mit ihr wächst Vertrauen – in das eigene Empfinden, in die eigene Richtung.
Wie du mit einer 3-Schritte-Übung mehr innere Klarheit findest – dein Werte-Kompass
Diese kleine Übung hilft dir, wieder stärker in Kontakt mit dem zu kommen, was dir im Innersten wichtig ist. Sie basiert auf Erkenntnissen aus der psychologischen Wertearbeit – unter anderem aus der Acceptance and Commitment Theory (Hayes et al., 2006) – und lässt sich gut in den Alltag integrieren.
Die Psychologin Kristin Neff (2003) beschreibt in ihrer Forschung zum Selbstmitgefühl, wie eine freundliche innere Haltung nicht nur das emotionale Gleichgewicht stärkt – sondern auch die Fähigkeit, in herausfordernden Zeiten klar und verbunden mit sich selbst zu bleiben..

Fazit: Was du mitnehmen darfst – leise, klar, echt

Du bist mehr als das, was du leistest.
Mehr als deine Rolle, deine Anpassung, deine Verantwortung.
Innere Klarheit entsteht nicht aus einem grossen Entschluss.
Sondern in stillen Momenten – wenn du beginnst, dich selbst wieder wahrzunehmen.
Wenn du spürst: Da bin ich. Nicht als Funktion – sondern als Mensch.
Vielleicht ist es nur ein kurzer Gedanke. Eine kleine Handlung. Ein Wert, der in dir wieder leise hörbar wird.
Aber genau dort beginnt Verbindung. Zu dir. Zu dem, was dir entspricht. Und zu dem, was dich im Innersten trägt – jenseits von Erwartungen.
Quellen
Bowlby, J. (1988). A secure base: Parent-child attachment and healthy human development. Basic Books.
Hayes, S. C., Strosahl, K. D., & Wilson, K. G. (2006). Acceptance and commitment therapy: An experiential approach to behavior change. Guilford Press.
Neff, K. D. (2003). Self-compassion: An alternative conceptualization of a healthy attitude toward oneself. Self and Identity, 2(2), 85–101. https://doi.org/10.1080/15298860309032
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